18 State of the Art PERIO TRIBUNE German Edition · Nr. 5/2010 · 5. Mai 2010 Á Fortsetzung von Seite 17 an retinierten Zähnen nachzuweisen ist. Andererseits werden exogene Faktoren, wie z.B. Abrasion mit okklusaler Drift, ursächlich diskutiert. Zementappositio- nen an der Wurzelspitze führen oft zu einer Reduzierung von Zahl und Durch- messer von Seitenkanälen und deren Ramifikationen sowie Einengungen des Foramen apikale, anatomische Verän - derungen, die für die endodontische Behandlung älterer Patienten auch Vor- teile bringen können, da die Gefahr einer Überinstrumentierung geringer wird. Zu möglichen strukturellen und funk- tionellen Altersveränderungen des Ze- ments und seiner Zellen gibt es bisher keine fundierten Studien. Möglicher- weise ist Zement im Alter anfälliger für Wurzelresorptionen. Die „Altersgingiva“ Zu Altersveränderungen der Gin- giva existieren in der Literatur unter- schiedliche und teils widersprüchliche Angaben. Klinische Beobachtungen einer sog. „Gingiva-Atrophie“ beruhen wahrscheinlich auf einer Verdünnung und reduzierten Keratinisierung des Epithels. Es weist im Alter jedoch eine unveränderte mitotische Aktivität auf. Der mögliche Verlust der Stippelung ist eine Folge der abnehmenden Ver - zahnung des Epithels mit der binde ge - we bigen Unterlage, der Lamina propria. Nach anderen Studien sollen diese Verzahnungen im Alter jedoch erhöht und vergrößert sein. Das Bindegewebe der Lamina propria wird fibrotisch umgebaut, die dort vorhandenen elasti- schen Fasern degenerieren. Deshalb soll im Alter die Gingiva fester, aber weniger elastisch sein. Zellbiologische Unter - suchungen an Fibroblasten der Gingiva älterer Patienten zeigten, dass bestimm - te alterstypische Phänomene wie Verlust der Proliferationsfähigkeit oder Anstieg von typischen Altersenzymen nicht zu beobachten waren, selbst bei Vorliegen einer Parodontitis. Allerdings haben zahlreiche Studien in der Zellkultur ergeben, dass die Syntheseleistungen vermindert sind. Dies betrifft vor allem Kollagen und bestimmte Proteogly- kane. Insgesamt dürften die Fibroblas- ten also mit für die veränderte Matrixzu- sammensetzung des gingivalen Binde- gewebes im Alter verantwortlich sein. Stimuliert man Gingiva-Fibroblasten älterer Spender mit Lipopolysacchari- den (LPS), den Zellmembranbestand- teilen von Bakterien, produzieren sie ver mehrt Plasminogenaktivator (PA), einen Faktor, der für die Verstärkung entzündlicher Prozesse und eine inten- sivere Degradierung des Bindegewebes bei Entzündung verantwortlich ist, und somit zu den stärkeren entzündlichen Veränderungen einer Gingivitis im Alter beitragen kann. Experimentell in du zier - te Gingivitiden an älteren Probanden entwickeln sich schneller und verlaufen aggravierter, es bildet sich mehr Plaque. Entgegen früheren Behauptungen bleibt aber die Versorgung mit Blutgefäßen in der gesunden Altersgingiva kon- stant. Aktuelle Untersuchungen mit - hilfe der Videokapillarmikroskopie an gesunden Probanden wiesen bei über 60-Jährigen sogar eine höhere Dichte von Kapillargefäßen nach. Es wird ver- mutet, dass die insgesamt nur gering - fügigen Veränderungen der Gingiva mit dem Alter etwas mit der dauernden Befeuchtung durch den Speichel zu tun haben, über den auch anabole Wachs- tumsfaktoren das Gewebe erreichen. Ob es bei sonst zahngesunden Indi - viduen zu einer Apikalmigration des Z M M PDL W ➡ 4 5b 7 3 5a 6 W P Abb. 3: Unterkieferfront mit Rezessionen bei reizlosen Gingivaverhältnissen; 73 J., männlich. – Abb. 4:: Parodontal-Ligament (PDL) im inter- radikulären Bereich, Molar, 65 J., männlich; unregelmäßige Kollagenfaserstrukturen, degenerierte Malassez’sche Epithelreste (M), Z = Zement; histologischer Schnitt, H.E.-Färbung. – Abb. 5a und b: Zellkulturen von PDL-Fibroblasten verschieden alter Spender; a: 14 J., männlich, b: 74 J., weiblich; die älteren Zellen sind plumper und granuliert, haben aber teilweise längere Zellfortsätze.– Abb. 6: Periapikal ausgedünnter spon giö- ser Alveolarknochen, Zahn 44, 62 J., weiblich; W = Wurzel, P = Parodontalspalt; histologischer Schnitt, Trichromfärbung. – Abb. 7: Entzünd liche Infiltrate bei Parodontitis im PDL, Zahn 45, 64 J., männlich, W = Wurzel, Pfeil: ektope Verkalkung; histologischer Schnitt, Trichromfärbung. Saumepithels mit Attachmentverlust gingivaler Fasern kommt, was klinisch als sog. „passive Eruption“ mit teilweise freiliegenden Zahnhälsen imponiert (Abb. 3), ist seit Langem umstritten. Die bis vor einigen Jahrzehnten vertretene Ansicht, dass eine „blande“, taschenfreie Gingivarezession von einer abnormalen Taschentiefe als Symptom destruktiver Parodontopathien ätiologisch zu unter- scheiden sei, wurde später verworfen, und beide als Erscheinungsformen einer Plaque-induzierten chronischen Paro- dontitis betrachtet. Inzwischen gibt es wieder Meinun- gen, die entzündungsfreie Rezessionen in Verbindung mit dem Alter bringen und als ätiologischen Faktor u.a. die lebenslange okklusale Drift der Zähne anführen. Wahrscheinlich sind der - artige regressive Veränderungen der Gingiva aber eher das Ergebnis lebens- lang immer wieder aufgetretener, viel- leicht meist subklinisch verlaufender entzündlicher Parodontopathien mit Attachmentverlust. Zahlreiche weitere Einflüsse, wie falsche orale Hygiene- maßnahmen, systemische Erkrankun- gen, wie z.B. ein Diabetes, oder das Rau- chen können natürlich als Kofaktoren daran beteiligt sein. Durch Rezession steht bei älteren Patienten eine größere Zahnoberfläche zur Retention von Plaque zur Verfügung. Freiliegende Zahnhälse sind deshalb auch ein Risiko- faktor für Wurzelkaries. Alternde Zellen im Desmodont DieWurzelhaut (Parodontal-Liga- ment, PDL) unterliegt Altersverände- rungen, wie sie an allen kollagenfa - serigen Bindegeweben des Körpers zu beobachten sind. Dazu zählen Fi - brosierungen durch Zunahme und Verdickung der Kollagenfaserbündel, Vermehrung elastischer Fasern und zu - nehmender Verlust der Grundsubstanz. Auch Defekte im Kollagenfasernetz sind beschrieben. Im PDL älterer Patienten finden sich histologisch oft auch fokale Hyalinisierungen, Knorpel- oder Ver- kalkungsherde, die Malassez’sche Epi- thelreste können vergrößert, degene- riert oder verkalkt sein (Abb. 4). Unter- suchungen an isolierten Fibroblasten des PDL in der Zellkultur eignen sich be- sonders gut zum Studium möglicher funktioneller Veränderungen im Alter auf zellulärer Ebene. Bereits der mor- phologische Vergleich zwischen PDL- Zellen jüngerer und älterer Menschen zeigt strukturelle Unterschiede (Abb. 5). Viele In-vitro-Studien haben nach- gewiesen, dass Fibroblasten des PDL im Alter sich unterschiedlich verhalten: Sie proliferieren weniger, ihre Fähigkeit zur Chemotaxis und Motilität ist ver - ändert, und sie weisen verminderte Sekretionsleistungen, z.B. für Kollagen, auf. Auch die Expression verschiedener Faktoren, die in der For schung als „Marker“ für PDL-Zellen gelten, wie z.B.alkalische Phosphatase, ist vermin- dert. Möglicherweise wirken sich diese altersphysiologischen Verluste nicht nur auf die Reaktionsbereitschaft ge - genüber Krankheitserregern, sondern auch auf die abnehmende Ka pa zität zum Gewebeumbau („turn over“) und auf eine verringerte Rege ne ra tions - fähigkeit des PDL im Alter aus. Nach experimenteller Stimulation mit LPS produzieren PDL-Fibroblasten älterer Menschen vermehrt pro-inflammato- rische Stoffe, wie z.B. PA, Prostaglandi - ne, oder Interleukine. Da diese Faktoren bei der Progression von entzündlichen Veränderungen und der Ak ti vie rung von Osteoklasten eine Rol le spie len, könnten sie für aggravierte Verläufe von Parodontitiden und einem stärkeren Knochenabbau beim älteren Patienten verantwortlich sein. Aufgrund ihrer Vermittlerrolle zwischen mechanischer Belastung des PDLs und dem Auftreten von Wurzelresorptionen, erklärt dies auch die erhöhte Bereitschaft älterer Patienten für Wurzelresorptionen und verstärkte Knochenresorption unter kieferorthopädischer Therapie. Zwar soll die parodontale Wundhei- lung bei älteren Menschen verschlech- tert sein, dennoch ist davon auszugehen, dass im PDL noch Stamm- und Progeni- torzellen zu finden sind. Eine Studie konnte jüngst zeigen, dass bei über 50-Jährigen Stammzellen noch vorhan- den sind, ihre Kapazität zur Prolifera- tion, Differenzierung und Fähigkeit zur Bildung von PDL oder zementähnlichen Strukturen aber vermindert ist. Wahr- scheinlich schöpft sich aus diesem Pool auch die Masse von Zementoblasten, die für eine lebenslange Zementapposition verantwortlich ist (s.o.). Die parodontale Stammzellforschung wird sich in Zu- kunft also auch mit dem „alten“ Zahn- halteapparat beschäftigen müssen, um mögliche Potenziale für stammzellba- sierte- regenerative Techniken für ältere Patienten nutzbar machen zu können. Alveolarknochen: Knochenverlust und Stammzellen Das Skelettsystem unterliegt schon ab der dritten Lebensdekade struk tu rel - len und funktionellen Verände rungen, die durch eine Verminderung von Kno- chendichte und -masse sowie Funktions - verlusten auf zellulärer und mo lekularer Ebene sowie im Knochen stoffwechsel gekennzeichnet sind. Die Hauptursachen sind hormoneller Art, v.a. der Abfall der Sexualhormone. Anatomische und radio - logische Studien haben gezeigt, dass Er- scheinungsformen dieser Osteo penie, wie z.B. eine Ausdünnung der Knochentrabe - kel oder kortikale Verdünnungen, auch im bezahnten Kieferknochen mit stei- gendem Alter nachweisbar sind (Abb. 6). Wahrscheinlich kommt es auch zu einem minimalen krestalen Knochenverlust. Eine „senile Atrophie“ des Alveolar- knochens, wie im letzten Jahrhundert noch postuliert, entwickelt sich bei gesunden, bezahnten älteren Menschen jedoch nicht. Ob altersabhängige Funk- tionsverluste auf zellulärer Ebene, wie sie z.B. für Osteoblasten untersucht sind, die u.a. verminderte Syntheseleis- tungen oder verminderte Reaktionen auf Stimulation durch Hormone und Wachstumsfaktoren aufweisen, auch für den Alveolarknochen zutreffen, ist nicht bekannt, aber wahrscheinlich. Aus dem Knochenmark des Alveolar- knochens älterer Patienten ließen sich jüngst im Rahmen von Implantatboh- rungen mesenchymale Stammzellen gewinnen, die zu Osteoblasten diffe - renzierbar waren. Dies unterstützt die Vermutung, dass in vielen Regionen des Kiefers auch noch bei älteren Menschen Knochenstamm- oder Vorläuferzellen zu finden sind, die an lokalen Repara- tur- und Regenerationsvorgängen im Parodont oder an der Osseointegration von Implantaten beteiligt sein dürften. Parodontitiden im Alter Parodontitiden (Abb. 7) haben un- ter bezahnten älteren Menschen eine hohe Prävalenz und können schwerer verlaufen. Diese muss aber nicht eine erhöhte Anfälligkeit im Alter bedeuten, sondern spiegelt eher einen kumulativen Effekt durch eine während des Lebens verlängerte Exposition gegenüber den bekannten Risikofaktoren wider. Aller- dings ist bisher wenig untersucht, inwie- weit sich die generellen Altersverände- rungen des Immunsystems auf das Paro- dont und damit seine Abwehrleistungen gegenüber Mikroorganismen der Plaque auswirken. Die sog. „Immunosenes - zenz“ beschreibt eine ganze Reihe von alterskorrelierten funktionellen und strukturellen Veränderungen der Im- munlage jenseits des 60. Lebensjahres. Dazu zählen eine verminderte zel - luläre und humorale Immunität, eine zahlenmäßige Verminderung fast aller immunkompetenten Zellen sowie zel - luläre funktionelle Defekte oder eine verminderte Zytokinproduktion. Dies hat u.a. ein höheres Infektionsrisiko und eine verstärkte Autoimmunität im Alter zur Folge. Wahrscheinlich sind auch viele Alterungsprozesse an eine chronische Ak tivierung unspezifischer Immunant- worten gekoppelt („Inflammaging“). In- wieweit sich diese Immunoseneszenz auf das Parodont auswirkt und inwieweit mit einer Parodontitis interferierende Al ters - krankheiten hierauf Einfluss nehmen, wird eine Zukunftsaufgabe klinischer und grundlagenorientierter Forschung in der Alterszahnheilkunde sein. PT Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Parodontologie Nachrichten, in welcher dieser Beitrag erstmals in der Ausgabe 4/2009 erschien. Eine Literaturliste steht unter www.zwp-online.info/fachportal/ parodontologie zur Verfügung. Prof. Dr. Werner Götz (Foto) Priv.-Doz. Dr. Stefan Lossdörfer Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Poliklinik für Kieferorthopädie, Oralbiologische Grundlagenforschung Welschnonnenstr. 17, 53111 Bonn Tel.: 0228 287-22116 Fax: 0228 287-22558 wgoetz@uni-bonn.de