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Dental Tribune Swiss Edition No. 4, 2017

8 Science DENTAL TRIBUNE · Swiss Edition · Nr. 4/2017 Zahnbehandlungen bei dementen Menschen Von der Empfehlung einer Räumung zur Empfehlung, die Frontzähne mit Komposit zu erhalten. Von Dr. med. dent. Walter Weilenmann, Wetzikon. 1 2 3 Abb. 1: Die Lippen und Wangen kippten alle Zähne nach oral (Aufnahme post mortem). – Abb. 2: Nach oral gekippte Eckzähne. – Abb. 3: Flach gedrückter Eckzahn. – Abb. 4: Röntgenstatus post mortem: Nur kleine Granulome trotz massiver Karies und Parodontitis. 4 Im Laufe einer demenziellen Ent- wicklung kann ein weitreichender Zahnzerfall entstehen. Erstaunlicher- weise ist er praktisch schmerz- und medizinisch harmlos. Die ästhetische Einbusse bewirkt bei den Angehöri- gen jedoch oft dringende Behand- lungswünsche. Sie sind ohne Anäs- thesie erfüllbar, wenn der Zahnarzt reizarm arbeitet. Die folgenden Beob- achtungen entstanden im Laufe der letzten 30 Jahre im Alzheimer Kom- petenzzentrum in Wetzikon (Sonn- weid) und in der Praxis des Autors. Demenz In Deutschland leben in 13’000 Heimen etwa 1,5 Millionen demente Menschen. In 30 Jahren werden es doppelt so viele sein. Die Demenz hat viele Ursachen, und ihr Verlauf ist entsprechend vielfältig. Im Durch- schnitt dauert der Aufenthalt in ei- nem Pflegeheim drei bis vier Jahre. Die Pflege ist ausschlaggebend für das Wohl befinden der Betroffenen. Sie werden in der Sonnweid je nach Krankheitsstadium verschieden be- treut. Im ersten Stadium leben die Be- troffenen in Wohngruppen zu acht Bewohnern. Sie haben die örtliche und zeitliche Orientierung weit- gehend verloren, können aber noch verständlich miteinander sprechen und im Haushalt mithelfen, und sie wirken auf Aussenstehende eher nor- mal. Auf unangenehme Reize reagie- ren sie sehr ängstlich. Sie putzen ihre Zähne zum Teil selber oder lassen sich gerne dabei helfen. Süssigkeiten sind ein wichtiges Element in ihrer Ernäh- rung. Ihr Genuss trägt unbestritten zur Lebensqualität bei, und Zucker ist ein wichtiger Nährstoff für das de- mente Gehirn. Mit der zunehmenden Steifigkeit der Hände und oralen Weichteile entsteht multiple Karies. Die Bewohner befinden sich im zweiten Stadium in der Pflegeabtei- lung und werden Tag und Nacht be- treut. Sie benötigen Hilfe beim An- kleiden, Essen, Auffinden ihrer Zim- mer usw., und oft befällt sie eine motorische Unruhe (Wandertrieb). Sie sprechen unverständlich, aber An- gehörige können den Sinn erahnen. Unangenehme Reize wehren sie ener- gisch ab. Mit dem Erstarren der Mus- keln und Gelenke hören die Kaube- wegungen auf und flüssige Nahrung wird notwendig. Die festen Lippen, Wangen und die Zunge verunmögli- chen jede wirksame Mund hygiene und erzeugen einen übermässigen, meistens nach oral gerichteten Druck gegen die Zähne. Wegen des Aus- bleibens der Kautätigkeit entstehen Elongationen und die Okklusion wird dysfunktional (Abb. 1). Die Frontzähne dienen aber noch zum Nagen (an der Bettwäsche), zum Flet- schen (bei Angst vor einem Unbe- kannten) und zum Beissen (zur Ab- wehr einer unerwünschten Person). Typisch sind erste Wurzelreste bei den Molaren und grosse, labiale Frontkaries. Die Patienten im dritten Sta- dium sind nun bettlägerig und befin- den sich in der Pflegeoase (mehrere Betten in einem grossen Saal). Einige liegen, ohne den Kopf abzulegen, und andere bewegen sich ständig, stossen Rufe aus und können kraftvoll zupa- cken, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. Die meisten sind jedoch ru- hig, beobachten still den Betrieb im Saal oder scheinen gar zu schlafen. Sie geniessen es, wenn die Pfleger ihre Körper mit kinästhetischen Locke- rungen wieder beweglich machen. Be- grüsst man sie, so antworten sie viel- fach mit einem Augenaufschlag oder mit einigen Worten, die irgendeinen losen Bezug zur aktuellen Situation oder zu früheren Erlebnissen haben. Sie erkennen gut, ob eine Stimme vertraut, respektvoll oder respektlos klingt, und reagieren entsprechend zutraulich oder abweisend. Unange- nehme Reize lösen einen Abwehr- reflex aus, der jedoch sofort verebbt, wenn der Reiz aufhört. Einzelne Zähne sind nach oral gekippt (Abb. 2) oder können flach auf der Gingiva lie- gen (Abb. 3). In der Regel sind multi- ple Wurzelreste im ganzen Gebiss vor- handen. Die Harmlosigkeit des Zahnzerfalls Erstaunlicherweise konnte in der Sonnweid in den letzten 30 Jahren an den anfänglich 100 und heute 150 Be- wohnern kein einziger dentogener oder parodontaler Abszess oder eine Wangenschwellung beobachtet wer- den. Der einzige Notfall betraf einen jüngeren Bewohner zu Beginn des zweiten Stadiums, der Kettenraucher war und eine ANUG entwickelte. Anfangs vermuteten die Pfleger oft Zahnschmerzen, wenn ein Bewohner nicht mehr richtig essen wollte. Der herbeigerufene Zahnarzt fand jedoch nie einen erklärenden Befund. Mit der Zeit wurde klar, dass das regungslose Sitzen vor dem vollen Teller eher den Übergang ins dritte Stadium als einen Zahnschmerz andeutet. Heute besteht grosse Gewissheit, dass der Zahn- zerfall schmerzfrei und ohne medi- zinische Komplikationen verläuft. Um sicher zu sein, dass keine ver- steckten Granulome oder andere pa- thogene Veränderungen in den Kie- ferknochen vorlagen, wurden 2007 mit Bewilligung der Ethikkommis- sion in Bern die Zähne von zehn verstorbenen Alzheimerpatienten ge- röntgt. Es fanden sich bei über 100 kariösen Zähnen und Wurzel- resten nur wenige apikale Aufhellun- gen von lediglich einem Millimeter Grösse, die meisten Wurzelreste wa- ren deutlich verkürzt und die Pulpen weitgehend obliteriert (Abb. 4). Bei einem Molar mit schwerer Parodon- titis war nur noch die palatinale Wur- zel im Knochen verankert. Die ande- ren beiden Wurzeln befanden sich ausserhalb des Zahnfleisches (Abb. 5). Für einen schmerzlosen Zahn- zerfall sprechen zudem die fehlende Kautätigkeit, die rasante Karies und die demenzielle Nichtbeachtung. Ohne Kaubewegungen gibt es keine Aufbissschmerzen. Die Karies er- weicht in kurzer Zeit allfällige spitzige Kanten an den Wurzelresten. Und weil der Zahnzerfall den Betroffenen weder Angst noch Scham noch sonst irgendwelche Sorgen bereitet, ver- läuft er ohne Stress und bleibt sub- jektiv unbemerkt (Abb. 6). Räumung und implantat- gestützte Vollprothesen? 2010 empfahlen die Professorin- nen Dr. Frauke Müller und Dr. Ina Nitschke (im Buch „Der alte Patient in der täglichen Praxis“, S. 252 ff., Quint- essenz Verlag), zu Beginn der Krank- heit, die Zähne durch Prothesen und Implantate zu ersetzen, um eine lang- fristig stabile Situation herzustellen. Die Retention an Implantaten soll sicherstellen, dass die Prothesen auch bei Prothesenunfähigkeit getragen werden können. Diese Empfehlung ist aus der Aussensicht eines Angehöri- gen oder Laien gut zu verstehen. Aber die Innensicht der Betroffenen sieht ganz anders aus. Ihre Kaufähigkeit ist nicht als langfristig zu bezeichnen, und der demenzielle Abbau hat keine stabilen Phasen. Die Betroffenen ha- ben zu Beginn der Krankheit weit- gehend gesunde Zähne, kauen feste Nahrung und wollen auf keinen Fall eine Prothese. Bei der Räumung wür- den zahlreiche Neuronen zwischen Gebiss, Gehirn und Kaumuskeln zer- stört. Mund und Zähne belegen im sensorischen und motorischen Cor- tex („Homunculus“) etwa gleich viel Platz wie die Beine, und ihre Verbin- dungen zum assoziativen Cortex sind bedeutungsvoll. 2012 hat Brand-Luzi (Universität Basel) zeigen können, dass Prothesenträger einen weniger sicheren Gang haben als bezahnte Menschen. Damit erhöht die Räu- mung möglicherweise die Sturzgefahr und beschleunigt mit Sicherheit den zerebralen Abbau. Im zweiten Sta- dium der Krankheit erkennen sich die Betroffenen im Spiegel nicht mehr und wissen nicht, wozu eine Prothese dient. Sie könnten nicht auf eine Druckstelle oder kauinstabile Zahn- gruppe hinweisen, sich weder mit Beissen wehren noch sich beim Nagen bei denen Angehörige oder Pfleger vermuten, dass sie schmerzen oder zu einer Selbstverletzung geführt haben. Prinzip: Die Extraktion wird so ausgeführt, dass keine oder nur eine milde Abwehr entsteht. Der Eingriff geschieht bei Dämmerlicht und abends, wenn der Pflegebetrieb redu- ziert ist. Stimmen und Geräusche im Rahmen der normalen Geräuschku- lisse eines Mehrbettzimmers stören nicht. Wenn der Patient zu einer Ab- 6 7 5 Abb. 5: Enorme Parodontitis ohne Verhaltensauffälligkeit. – Abb. 6: Eine Bewohnerin hat diese Brücke während des Mittagessens selber aus dem Mund genommen, neben den Teller gelegt und weitergegessen, als ob nichts passiert wäre. – Abb. 7: Karies bei 1+1 ohne Schmerzsignale. selber spüren. Und wenn die Kau- muskeln so steif werden, dass man lieber Löffelnahrung schlürft, sind Prothesen keine Hilfe, sondern eher hinder liche Fremdkörper. Im Endsta- dium könnten sich die verspannten Lippen und Wangen an einem Im- plantat wund reiben. Die Innensicht hat demzufolge mehrere Aspekte, die gegen Prothesen und Implantate sprechen. Zahnbehandlungen Behandlungen in Narkose 1990 wurden in der Sonnweid vier Sanierungen in Narkose durch- geführt. Leider führte jedoch die vierte Narkose zum Tod der Patien- tin. Offenbar haben demente Men- schen ein hohes Narkoserisiko, wes- wegen die Sonnweid keine Zahnbe- handlungen in Narkose mehr durch- führen lässt. Extraktionen im Bett Seither werden Extraktionen mit leichter Sedation (7,5 mg Dormi- cum) und unter Lokalanästhesie am Bett der Patienten durchgeführt. Indikation: Die Indikation ist sel- ten und betrifft vorwiegend Zähne, wehr- oder Ausweichbewegung an- setzt, wird die Manipulation angehal- ten, bis er wieder ruhig liegt. Ausführung: Zu Beginn der Be- handlung verabreicht ein Pfleger dem Patienten die Dormicum-Tab- lette. 15 Minuten später beginnt die Wirkung. Unterdessen richtet sich der Zahnarzt am Kopfende des Bettes mit Lupenbrille und Stirnlampe ein, sodass ihn der Patient nicht gut sehen kann. Der Patient wird so gelagert, dass sein Kopf für den Zahnarzt gut erreichbar ist. Die Assistentin bereitet die Handinstrumente und Hilfsmit- tel auf einem Tischchen neben dem Bett vor. Der Spiegel zum Abhalten der Weichteile wird mit der Hand vorgewärmt. Die Lippen werden etappenweise geöffnet, sodass die re- aktiven Versteifungen abklingen kön- nen und der Patient immer nur eine kleine Veränderung spürt. Die Nadel wird zunächst nur 1–2 mm tief in die Umschlagfalte eingestochen. Dann wird das Anästhetikum sehr langsam injiziert. Danach wird eine allfällige palatinale Wurzel intraligamentär (und nicht über den N. pal. major) betäubt. Die Anästhesie wird mit Desmotomen geprüft. Die Zange lo- ckert den Zahn mit wenig Kraft und

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