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Dental Tribune German Edition No. 11, 2016

4 DENTAL TRIBUNE German Edition Nr. 11/2016 · 7. November 2016 International Science Ursachen und Diagnostik craniomandibulärer Dysfunktionen – das Wissen der Zahnärzte Lebenslanges Lernen und Streben nach neuem Wissen sind Kompetenzen, die einen guten Arzt auszeichnen. Von Dr. med. dent. Oliver Schierz, Leipzig, und Zahnarzt Gereo Wirtz, Olpe. Das Wissen hinsichtlich der Ätio- pathogenese und Diagnostik cranio- mandibulärer Dysfunktionen ist in den letzten Jahrzehnten erheblich vorangeschritten, wenngleich wei- terhin viele Wissenslücken verblei- ben und wissenschaftlich geschlos- sen werden müssen. Während vor 30 Jahren die Diagnostik und The- rapie vornehmlich nach „Schulen“ erfolgte, bestehen heutzutage durch nationale Fachgesellschaften erstellte Leitlinien, welche Empfeh- lungen aussprechen. Im Bereich der craniomandibulären Dysfunktio- nen gibt es keine Informationen, wie groß die Diskrepanz zwischen dem aktuellen wissenschaftlichen Stand und dem präsenten Wissen in der zahnärztlichen Praxis ist. Dieser Artikel gibt einen Über- blick zum diesbezüglichen Wissen niedergelassener deutscher Zahn- ärzte in ausgewählten Themen- bereichen. Einleitung Grundlage für das Stellen einer korrekten Diagnose aus den ge- wonnenen Informationen ist das Wissen des behandelnden Arztes/ Zahnarztes zu den Ursachen, dem Krankheitsverlauf und den dia- gnostischen Verfahren. Dieses Wissen hat sich in den letzten 30 Jahren im Bereich der Globaldiag- nose „craniomandibuläre Dys- funktion“ (CMD) erheblich ge- wandelt und komplettiert. Die zu- ständigen Fachgesellschaften geben regelmäßig Empfehlungen bzw. subsummieren diese zu Leitlinien. Um geeignete Therapiestrategien auswählen zu können, ist jedoch eine weitere Subdifferenzierung notwendig. Hier bestehen aller- dings im deutschsprachigen Raum selbst als auch weltweit erhebliche Unterschiede in den Klassifikatio- nen und den Definitionen der ein- zelnen Subdiagnosen. Diese Plura- lität erschwert die Bildung einer in- ternational gültigen uniformen Klassifikation. Während im Be- reich der Allgemeinmedizin opera- tionalisierte Diagnosebildungen in vielen Bereichen Standard sind (zum Beispiel bei Kopfschmerzen und Diabetes), verweigern sich die Zahnärzte mit dem Verweis auf die Individualität des Patienten. Dies resultiert sowohl in mannigfaltigen Meinungen als auch Diagnose- und Therapieschemata und erschwert damit dem Einzelnen einen struk- turierten Überblick. Aus diesem Grund wurde im Rahmen einer Promotion ein Fra- gebogen entworfen, welcher wich- tige Wissensbereiche zum The- mengebiet der CMD abdeckt. Die- ser umfasste dabei Behauptungen zur Ätiopathogenese, Diagnostik und Therapie, welche die Teilneh- mer ablehnen oder zustimmen konnten. Aus Platzgründen be- schränken wir uns auf die Darstel- lung der Umfrageergebnisse zur Ätiopathogenese und Diagnostik. Der Fragenkatalog wurde Ende 2014 an 344 kassenzahnärztlich zu- gelassene Praxen in der Region Leipzig Stadt versendet. Von diesen wurden 189 (Response Rate: 55 %; 64 % Frauen; mittleres Alter 50 Jahre; Altersspanne: 24–74 Jahre) ausgefüllt zurückgesandt. Ziel dieser Untersuchung war, den Wissensstand zu CMD zu erfassen und mit der aktuellen wissen- schaftlichen Evidenz abzugleichen. Hinsichtlich der bisher besuchten Fortbildungen innerhalb der letz- ten drei Jahre zum Thema CMD gaben 17 Prozent der Teilnehmer an, keine Fortbildung zum Thema CMD besucht zu haben. 35 Prozent der Zahnärzte waren einmal im nachgefragten Zeitraum auf einer Weiterbildung zum Thema CMD und weitere 36 Prozent gaben an, gelegentlich (zwei- bis dreimal) derartige Fortbildungen in den letz- ten 36 Monaten besucht zu haben. Lediglich 12 Prozent der Befragten partizipierten bei mehr als drei sol- cher Veranstaltungen. Männer be- suchten im Schnitt 1,18 und Frauen 1,56 Fortbildungen zum Thema CMD in diesem Zeitraum. Wissen zur Ätiopathogenese Das Wissen zu Ursachen und dem Verlauf einer Erkrankung trägt zum Krankheitsverständnis bei. Hier hat sich in den letzten Jahr- zehnten ein dramatischer Wandel vollzogen. Vormals standen mono- kausale, oftmals auf die Okklusion fixierte Gründe und eine Krank- heitskaskade im Fokus. Ein prinzipi- ell linearer Krankheitsablauf führe ausgehend vom okklusalen Störkon- takt über muskuläre Dysfunktionen zu Gelenkerkrankungen. Diese Sichtweise hat sich grundlegend ge- wandelt. Mittlerweile ist ein multi- faktorielles Geschehen meinungs- übergreifend akzeptiert, was in der Stellungnahme des Arbeitskreises Epidemiologie in der Deutschen Ge- sellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) bereits im Jahr 2000 formuliert wurde. Al- lerdings besteht weiterhin Dissens, welche Faktoren in welchem Aus- maß eine Rolle spielen. Hinsichtlich bruxistischer Akti- vitäten (Knirschen und Pressen) wissen wir heute, dass diese vorwie- gend zentral gesteuert sind. Nächtli- cher Bruxismus wird derzeit als Schlafstörung klassifiziert. Okklu- sale Aufbissbehelfe verhindern mit- tel- bis langfristig nicht die Aus- übung parafunktioneller Aktivitä- ten, sondern führen durch die neu- romuskuläre Desorientierung ledig- lich zu einer kurzzeitigen Reduk- tion.InsofernstellenOkklusionsstö- rungenkeinenbedeutenden,Bruxis- mus auslösenden Faktor dar. Dies sehen auch dreiviertel der befragten Zahnärzte so. Dass Bruxismus einen erhebli- chen Einfluss auf die Prävalenz von CMD hat, belegen mehrere Studien. Personen mit parafunktionellen Ak- tivitäten, die nur im Wach- oder Schlafzustand ausgeübt werden, zei- gen eine Verdopplung des Risikos auf eine schmerzhafte CMD. Wenn die parafunktionellen Aktivitäten sowohl im Wachzustand als auch im Schlaf ausgeübt werden, wird das Risiko auf eine schmerzhafte CMD um das achtfache verviel- facht. Die detaillierten Antworten der niedergelassenen Zahnärzte zu diesem Themenkomplex sind in Ta- belle 1 aufgeführt. Dass psychosoziale Faktoren eine Rolle bei der Ätiopathogenese spielen, ist seit Langem bekannt. Chronischer Stress, der z.B. unter lang anhaltenden psychischen Be- lastungen wie Mobbing, Prüfungs- situationen, familiären Probleme u.ä. häufig vorkommt, kann die in- dividuell sehr unterschiedlich aus- geprägte Problembewältigungs- kapazität des Individuums über- fordern und erhöht damit das Ri- siko auf persistierende Schmerzen muskulären Ursprungs. Auch ist hinlänglich bekannt, dass chroni- scher Stress die Muskulatur in eine Art Daueralarmzustand versetzt, was sich in einer erhöhten Schwie- rigkeit, diese wieder zu relaxieren, äußern kann. Dieses ätiologische Problem war über 80 Prozent der befragten Teilnehmer bekannt. Behauptung Zustimmung „weiß nicht“ Ablehnung Bruxismus (Pressen, Knir- schen) wird vorwiegend durch Okklusionsstörungen verur- sacht 21,4 3,2 75,4 Bruxismus hat einen erhebli- chen Einfluss auf die Entste- hung von CMD 83,1 8,5 8,5 Stress ist ein Hauptfaktor in der Entstehung von CMD 86,0 5,4 8,6 Anspannung und Stress füh- ren bei CMD-Patienten häufig zur lang anhaltenden Erhö- hung des Kaumuskeltonus 96,8 2,6 0,5 Depression kann ein bedeu- tender ursächlicher Faktor im Zusammenhang mit der Ent- stehung chronischer Schmer- zen sein 74,9 19,8 5,3 Manche Patienten nutzen den Schmerz als Ausrede zur Ver- meidung von unangenehmen Tätigkeiten 40,5 40,5 18,9 Tab. 1: Die Behauptungen zur Ätiopathogenese und Antworten der Teilnehmer in Pro- zent.NachaktuellemwissenschaftlichemStand,korrekteAntwortensindfettmarkiert. In den letzten 3 Jahren besuchte Fortbildungen zum Thema CMD keine: 17 1: 35 2 bis 3: 36 mehr als 3: 12 keine – 17% 1 – 35% 2 bis 3 – 36% mehr als 3 – 12% Abb. 1: Anzahl der durch die Studienteilnehmer besuchten Fortbildungsveranstal- tungen zum Thema CMD. 1 Abb. 2: 40-jähriger Patient mit bruxismusbedingt ausgeprägter Hypertrophie der Kaumuskulatur. – Abb. 3: Panoramaschichtaufnahme einer 65-jährigen Patientin mit ausge- prägten arthrotischen Veränderungen im rechten Kiefergelenk. 2 3 Fortsetzung auf Seite 6  © Ingolf Riemer 21,43,275,4 83,18,58,5 86,05,48,6 96,82,60,5 74,919,85,3 40,540,518,9 23

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