19 Continuing Education DENTAL TRIBUNE Swiss Edition Nr. 10/2016 · 5. Oktober 2016 Zentral und pulpanah eingesetzt, er- hält der Rosenbohrer PolyBur P1 wertvolle Zahnsubstanz, indem seineSchneidenaufhartem,demine- ralisiertem Dentin verrunden und er bei zu hoher Anpresskraft sogar im Halsbereich verbiegt. Dabei definiert er jedoch für die Erwachsenen- wie Kinderzahnheilkunde nicht zwin- gend den einzigen therapeutischen Endpunkt. Denn diese Grenze steht weiter zur Diskussion Dorothee Holsten: Welche neue Philosophie müssen vor allem nie- dergelassene Zahnärzte zulassen, die aus dem Studium heraus noch den weissen Kavitätenboden beim Exkavieren zum Ziel haben? Prof. Dr. Rainer Haak: Wir Zahnmediziner sind durch das Stu- dium auf eine radikale Entfernung kariöser Strukturen „sozialisiert“. Das äussert sich ja sogar in unserem Vokabular, wenn wir zum Beispiel noch von „vollständiger“ oder „un- vollständiger“ Entfernung sprechen – eine Bewertung, die heute einfach nicht mehr angemessen ist. Wir mei- nen immer, dass ein „Mehr“, also das Wegnehmen angrenzender gesunder Strukturen, mit besonderer Gründ- lichkeit verbunden ist. Doch das ist falsch. Minimalinvasives Denken und Handeln findet übrigens nicht nur in der Zahnmedizin statt, son- derninfastallenDisziplinenderMe- dizin. Der PolyBur P1 soll Sicherheit durch Reproduzierbarkeit schaf- fen. In welchen Strukturen gebietet er Stopp? DerPolyBuristeineMöglichkeit, den Endpunkt beim Exkavieren re- produzierbarer zu erzeugen. Das In- strument reagiert auf Härte, also auf eine unterschiedliche Mineralisation desDentins.Bakterienspielenindie- sen Regionen häufig keine entschei- dende Rolle mehr. Der P1-Anwender sollte sich also bewusst machen: Der Substanzabtrag ist limitiert, aber er bewegt sich doch schon innerhalb der regenerierbaren Strukturen des partiell demineralisierten Dentins. Das bedeutet auch, dass er nicht zwingend die Abtragsfähigkeit des P1 in vollem Masse ausschöpfen muss, er darf vorher aufhören. Nicht der P1 definiert den Stopp, sondern immer noch der Behandler. Der P1 unterstützt uns aber, indem er den Dentinabtrag begrenzt, um die Pul- pavitalität bestmöglich zu sichern – und das ist schliesslich unser Ziel. Viele Praktiker haben sich mit dem Rosenbohrer ein hohes Mass an Taktilität erarbeitet und definieren sich als exkavationserfahren. Warum sollten aber auch jene Be- handler dennoch umdenken? Die Kriterien, die wir bei der Kontrolle einsetzen, sind stark visu- ell und taktil geprägt. Natürlich er- reichen Zahnärzte mit zunehmender Praxiserfahrung konstantere Exka- vationsergebnisse – aber die End- punkte sind eben nicht exakt kali- briert und reproduzierbar. Sie ent- stammen der rein subjektiven Inter- pretation der taktilen und visuellen Eindrücke des Behandlers. Mit dem P1 erreicht man einen standardisier- ten, härtedefinierten Endpunkt. Bei Karies handelt es sich um bak- terielle Diffusionsprozesse, die einen Gradienten bilden – von der Läsion weg in Richtung unverän- dertes Dentin mit zunehmender Mineralisation und Härte. Wo sehen Sie persönlich den therapeu- tischen Endpunkt? Bei der Exkavation sollte jeder Behandler zwei Ziele vor Augen haben: eine stabile Restauration und – wie schon erwähnt – die Vitalität der Pulpa. Es wäre schön, wenn wir für die Zukunft diagnostische Hilfs- mittel an die Hand bekommen wür- den, die diese Ziele unterstützen. Sie sollten zum Beispiel die Fragen be- antworten: In welchem Zustand be- findet sich die Pulpa wirklich? Wie kann das Dentin verlässlicher als per Sondentest beschrieben werden? Wie muss die Struktur am Kavitä- tenbodenaussehen,damitsiedieRe- stauration unterstützt? Ist sie stabil genug als Unterlage für eine adhä- sive Füllungstherapie? Ich meine damit: Auf der Suche nach dem the- rapeutischen Endpunkt geht es nicht allein um eine definierte Zone im Dentin. Die Antwort darauf müsste auch von anderen Parametern als dem Härtegrad getragen werden. Der Schutz der Pulpa und damit weitmöglichster Abstand zu ihr beim Exkavieren haben Priorität. Sie sehen: Es gibt nicht einen einzigen universell geltenden Endpunkt. Welche Studien laufen hierzu? Zu den diagnostischen Fragen, die ich soeben formuliert habe, lau- fen momentan noch keine klini- schen Studien bei uns, weil es noch schwierig ist, kariöse Dentinverän- derungen und Dentinvariationen präzise zu kategorisieren. Reviews und Metaanalysen zeigen jedoch eindeutig, dass bei tiefen, pulpa- nahen Kariesläsionen die herkömm- lichmaximalinvasiveMethodenicht mehr das Mittel der Wahl ist. Die wissenschaftliche Evidenz deutet in die gegenteilige Richtung hin zu selektivenExkavationsverfahrenwie PolyBur P1, proteolytischen Enzy- men, Carisolv, fluoreszenzgesteuer- ten Lasern et cetera. Für deren kom- binierten Einsatz gibt es bisher keine klare Empfehlung. Aber es stellt sich natürlich die ketzerische Frage: Müssen wir überhaupt möglichst viele Bakterien entfernen? Der Evi- denzstand sagt dazu: Bakterien, die zurückbleiben, müssen mit einem dichten Kavitätenverschluss von der Mundhöhle isoliert werden. Der Fokus der Forschung liegt also ver- stärkt auf der korrekten adhäsiven Versiegelung. Glasionomerzemente sind in der Kinderzahnheilkunde durchaus beliebt. Schliesst das den Einsatz des PolyBurs P1 aus? Bei Erwachsenen wie bei Kin- dern muss die Kavität definitiv und dicht versorgt werden. GIZs sind nur sehr eingeschränkt als definitives Restaurationsmaterial brauchbar. Aber in der Kinderzahnheilkunde sprechen wir von anderen Zeiträu- men: Wenn also nur ein kurzer Zeit- raum bis zum Zahnwechsel über- brückt werden muss, dann kann vielleicht auch eine GIZ-Füllung als „definitiv“ gelten. Wer garantiert dem Praktiker ei- gentlich, dass diese partiell demi- neralisierte Dentinschicht, die durch den PolyBur unter der ad- häsiven Füllung verbleibt, nicht mittelfristig doch zu einer Pulpitis führt? Egal, wie weit ein Zahnarzt ex- kaviert, er wird nie eine absolute Bakterienfreiheit im Sinne einer ste- rilen Kavität erlangen. Die Arbeits- weise des PolyBur basiert auf dem Kriterium Härte. Doch da, wohin wir mit dem PolyBur vordringen, also ins demineralisierte Dentin, haben wir die Bakterienfront der Karies schon längst hinter uns gelas- sen. Das Risiko einer Pulpitis, die von Bakterien ausgelöst wird, ist hier also nicht gegeben. Eine partiell de- mineralisierte Dentinschicht er- zeugt keine Pulpitis. Was sagen Sie den Zahnärzten, die bei einem Erwachsenen sich dann doch mit einer korrekt ausge- führten Vitalexstirpation und an- schliessender Wurzelkanalbhand- lung eher auf der sichereren Seite fühlen und damit das Risiko einer Pulpitis vermeiden wollen? Die Indikation für eine Vitalex- stirpation ist eine irreversible Pulpi- tis. Nicht mehr und nicht weniger! Die Kriterien für die Unterschei- dung zwischen einer reversiblen und irreversiblen Pulpitis sind klinisch anfänglich nicht besonders eindeu- tig. Aber ohne eindeutige Symptome gibt es keine Indikation zur Wurzel- kanalbehandlung. Mit dem Patien- ten muss man diese Unsicherheit in der Diagnosefindung besprechen, dasistnichtimmereinfach.Aberder direkte Griff zum Bohrer, ohne eine irreversible Pulpitis gesichert zu haben, ist eine Übertherapie. Ich spreche mich ausdrücklich gegen diesen Weg aus. Und jeder sollte sich bewusst machen: Bei einer Wurzel- kanalbehandlung gehen wir zu zehn bis 15 Prozent das Risiko eines Zahnverlustes ein! Der PolyBur wird nach vorheriger Exkavation der peripheren Anteile mit einem herkömmlichen Rosen- bohrer eingesetzt. Welcher Bohrer ist das bei Ihnen? Ja, auch an der Uni Leipzig leh- ren wir dieses zweistufige Exkava- tionskonzept, das zwischen „peri- pher“ und „zentral“ unterscheidet. In den peripheren Anteilen soll eine Dentinoberfläche erreicht werden, die keinerlei kariöse Veränderung zeigt. Nur solche Oberflächen liefern die besten Voraussetzungen für einen dichten adhäsiven Verschluss. Für diesen Arbeitsschritt eignen sich Hartmetall-Rosenbohrer ge- nauso wie der Keramik-Rosenbohrer K1SM (Komet). Schlagwort„Kollegenschelte“:Nach einer Behandlung mit dem P1 stellt sich die verbliebene, deminerali- sierte Schicht in der Röntgenkont- rolle wie ein Kariesrezidiv dar. Wie sollten Zahnärzte damit umgehen? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Hier ist ein Umdenken auf vielen Ebenen gefordert. Es ist eine Frage der Kommunikation, die in Vorlesungen, in Fortbildungen und in der Praxis am Behandlungsstuhl gegenüber dem Patienten stattfin- den muss. Hier wurde Gutes getan und das Pulpagewebe erhalten. Die Patientensolltendaswissenundein- schätzen können. Ich fände es aber übertrieben, für jeden Zahn das Ex- kavationsniveau in einem Pass zu dokumentieren. Darüber hinaus muss sich der Gedanke einer zwei- stufigen Kariesentfernung stärker in den Köpfen der Zahnmediziner ver- ankern – und das ist in meiner Wahrnehmung der Fall. In der uni- versitären Ausbildung und bei den niedergelassenen Kollegen sehe ich eine klare Trendwende. Das Thema erlebt positiven Aufwind und ist deutlich präsenter als früher. Unser Anspruch ist es, einer jungen Zahn- arztgeneration das selektive Exka- vieren so zu lehren, dass sie bereits in der Assistenzzeit als Multiplikatoren wirken und später in der eigenen Praxis dieses Konzept konsequent fortführen. Und in der Hinsicht bin ich optimistisch, denn die Argu- mente für das Konzept der selekti- ven Kariesentfernung sind einfach die besseren! Vielen Dank für das Gespräch. DT Selektive Kariesexkavation zur Vitalerhaltung der Pulpa Die selbstlimitierende Exkavationsmethode mit dem Rosenbohrer PolyBur P1 erfährt derzeit neues Interesse. Prof. Dr. Rainer Haak, MME, im Gespräch mit Dorothee Holsten, Winningen. Abb.1–4:Der Zugang zur Kavität wird wie gewohnt mit rotierenden oder oszillierenden Instrumenten hergestellt. In den peripheren Anteilen der Kavität kann Dentin mit her- kömmlichen Rosenbohrern (z.B. CeraBur K1SM) entfernt werden. Erst abschliessend erfolgt der zusätzliche Griff zum PolyBur P1 für den Kavitätenboden. (Quelle: Komet) 1 2 4 3 Prof. Rainer Haak, MME Infos zu Prof. Dr. Haak Infos zu Komet