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Dental Tribune German Edition No. 9, 2016

München 2016 36  Die Grenze zwischen perfekt und perfektionistisch ist fließend. Das trifft für Menschen wie für Organi- sationen zu. Während „perfekt“ zu hervorragenden Produkten und oft auch zu hohen Margen führt, macht Perfektionismus Menschen krank und erlahmt Organisationen. Diese Erscheinun- gen nehmen zu. Das ist vor allem deshalb so tra- gisch, weil Per- fektionismus ei- gentlich nur auf einem großen Irr- tum beruht. Trotz- dem breitet er sich aus, wie eine schlei- chende Krankheit. Aber es gibt Gegenmittel. Perfektion ist Zufall Wir leben und wirtschaften in einer komplexen Welt und nichts ist berechenbar. Mit elementarer Wucht schlagen immer wieder Ereignisse in unseren Alltag, die niemand voraus- gesehen hat und die, allen Vorhersa- gen gemäß, eigentlich gar nicht hät- ten passieren können. Da fällt plötzlich die Berliner Mauer und Europa verändert sich. Viele andere Beispiele ließen sich aufzählen. Für solche abrupten Änderungen mit einschneidender Wirkung hat sich der Begriff „Schwarzer Schwan“ eingebürgert. Aber auch bei den viel kleineren Dingen des Alltags wirkt die Komplexität und führt zu Abwei- chungen zwischen dem, was man möchte, sich vorgestellt oder geplant hat, und dem, was dann tat- sächlich eintritt. Der Plan für den Tag war perfekt, aber bereits nach der ersten Stunde läuft alles ganz anders. Trotz sorgfältiger Ar- beit und Quali- t ät s kont r ol le kommen mangel- hafte Artikel zur Auslieferung und müs- sen zurückgerufen werden. Der erfahrene Installateur hat sich alle Mühe gegeben, und trotzdem tropft der Wasserhahn nach zwei Tagen wieder. Solche Dinge passieren täglich, wenn sie auch an der Gesamtzahl der Ereignisse einen nur geringen Anteil im Prozent- oder Promillebereich stel- len. Aber: Perfektion wäre 100 Pro- zent! Und die wird eben nicht er- reicht. Unmöglich. Es bleibt immer eine statistische Fehlerquote, die nicht unterschritten werden kann. Trotz größten Bemühens. Perfektionismus führt zu Überforderung Wenn das so ist, sollte das unbe- dingte, bedingungslose Streben man- cher Menschen nach der perfekten Lösung misstrauisch machen. So- lange dahinter eine Haltung von Ge- wissenhaftigkeit, ein hoher persön- licher Anspruch an Leistung und Organisiertheit steht, gibt es keine Einwände. Wenn jedoch die Grenze zur Zwanghaftigkeit überschritten wird, permanente Versagensängste und depressive Symptome auftreten, dann wird es kritisch. Man nennt diese Menschen Perfektio- nisten. Ihnen genügt Gewissenhaftigkeit nicht, das in der Situation Men- schenmögliche zu tun. Zwanghaft treiben sie sich selbst und ihre Um- gebung an, sind niemals zufrieden, tolerieren keinerlei Abweichungen, erlauben kein Nachlassen. Sie jagen einem Phantom nach. Es ist leistungsfördernd, auch im Sinne von Unternehmen, Familien und der Gesellschaft, eine Spannung zwischen „Soll“ und „Ist“ aufzubauen. Das lässt uns nach Weiterentwick- lung, ständiger Verbesserung streben und ist grundsätzlich gesund. Wenn allerdings aus dem „Soll“ ein „Muss“ wird, handelt es sich eindeutig um eine Dysfunktionalität. Der Perfektio- nist handelt zwanghaft, weil angstge- trieben. Er ist einem erhöh- ten Disstress ausge- setzt. In verschiede- nen klinischen Studien wurden Zusammenhänge mit kritischen Krankheitsbil- dern hergestellt, wie Angst- und Zwangsstörungen, Alkoholismus, An- orexia nervosa, Buli- mia nervosa, Depres- sion, sexuelle Funktionsstö- rungen bis hin zu Selbstmord- gedanken. In der immer enger werdenden Welt (nicht im räumlichen Sinne, son- dern unter Markt- und Wettbewerbs- aspekten) wächst zwangsläufig der Arbeits- und Leistungsdruck. Zweifel- los auch im Zusammenhang damit, überschreiten mehr und mehr Men- schen die Grenze zum Perfektionis- mus. Sie gefährden sich damit selbst und ihre Umgebung. Genau aus die- sen Gründen wächst auch die Burn- out-Rate beängstigend an. Perfektionismus erlahmt Organisationen In vielen Unternehmen und Ins- titutionen ist das Streben nach Per- fektion Grundlage der Arbeit. In vielen Unternehmensleitlinien und Mission Statements finden sich Be- griffe wie „perfekt“, „Spitzenleis- tung“, „Nummer eins“. Solange das in einem vernünftigen Miteinander ver- wirklicht wird, ist es positiv. Wenn dagegen Perfektionismus um sich greift, vielleicht sogar zur Doktrin wird, dann nimmt die Organisation Schaden. Bevor der schlimmste Fall eintritt und viele Mitarbeiter und Führungskräfte Burn-out (ich ver- wende diesen Begriff hier summa- risch für die oben genannten und ähnlich gelagerten Erkrankungen) bekommen und langfristig ausfallen, steigt der Krankenstand. Ei- nerseits steckt dahin- ter tatsächlich die Zunahme von Er- krankungen, andererseits handelt es sich häufig um Schutz- reaktionen von unter Perfektionis- musausw ir - kungen leiden- den Betroffenen. Viel schwerer wiegt jedoch eine andere Erscheinung: Perfektionismus macht Angst und Kontrolle zu dominieren- den Themen. Der sogenannte so- ziosystemische Erfolgsfaktor Ver- trauen als treibende Kraft für gute Zusammenarbeit, Kreativität, Inno- vation und für Unternehmenserfolg schwindet. In einer solchen Atmo- sphäre gedeihen Regelungs- und Kontrollwut. Alles wird vorgeschrie- ben, in dem Glauben, dadurch zu bes- seren Ergebnissen zu kommen. Alles wird mit Kennziffern belegt, auch in den unsinnigsten Konstruktionen, in Zielvereinbarungen geschrieben, ge- benchmarkt und gereviewt. In Per- fektionismuskulturen wird Vorgabe und Kontrolle zum Selbstzweck. Ent- scheidungen wer- den nicht mehr von Füh- rungskräften getroffen, sondern aus Zahlenkolonnen in Management- Cockpits abgeleitet. Weil das siche- rer ist und dann schließlich die Zahlen verantwortlich sind und nicht der Manager. Da in kei- nem Falle dem Perfektionis- musanspruch genügt werden kann, ist jeder gut beraten, sich in Deckung zu bringen. Das Ganze geht einher mit der Ausbildung starker Hierar- chien und befestigter Bereichs- grenzen. Und am Ende geht im Unternehmen nichts mehr nor- mal – die Organisation ist ver- quer und letztlich lahmgelegt. Perfektionismus ist eine schleichende Krankheit Nun soll niemand glauben, er selbst und sein Unternehmen seien gegen Perfektionismus gefeit. Je grö- ßer der Druck, desto häufi- ger werden Anforde- rungen nicht erfüllt. Das führt – wenn eine kluge Füh- rung dem nicht Einhalt gebietet – wiederum zu höherem Druck, zu noch mehr Fehlern und so weiter. Eine Teu- felsspirale entsteht, an deren Höhepunkt die Perfektionismusfalle steht. Ist eine Organisation einmal auf dem Weg dorthin, und wird sie nicht durch drastische Interventionen da- ran gehindert weiterzugehen, dann schnappt diese Falle irgendwann zu. In manchen Großorganisationen kann man diese Entwicklung verfol- gen, auch in Behörden und beim Fi- nanzamt. Diese tragen darüber hin- aus mächtig dazu bei, dass sich die genannten Erscheinungen auch in kleineren Unternehmen verbreiten. Behörden und die Konzernzentralen üben nämlich auf der Grundlage von Gesetzen und Compliance-Regeln Druck aus und sorgen auf diese Weise dafür, dass jeder sich besser absichern muss. Perfektionismus breitet sich aus. Es bedarf also nicht unbedingt eines perfektionistischen Chefs, der seine Umgebung unter Kontrolle zwingt, sondern die Eigen- dynamik von Organisationen führt, wenn sie nicht gebremst wird, in die Perfektionismusfalle. Mögliche Gegenmittel Die Medizin gegen den Perfektio- nismusbefall ist der Mensch. Das klingt zunächst überraschend, denn schließlich ist er Betroffe- ner und in gewisser Weise auch Verursacher des Per- fektionismus und seiner Auswirkungen. In sehr vielen Fällen – überall dort, wo Perfektionismus sich ungezügelt ausbreitet – sind Men- schen passive Teile des „Systems“. Sie ordnen sich den Regeln und Bedin- gungen im Unternehmen unter, hin- terfragen sie nicht und folgen ihren Gewohnheiten. Das muss aber nicht so sein, denn Menschen haben die Fähigkeit, zu ge- stalten, auch die Systeme, zu de- nen sie selbst gehören. Dazu müssen zwei Voraussetzun- gen erfüllt sein. Erstens müssen die Menschen gestalten dürfen. Führungskräfte müssen das zulassen und för- dern. Zweitens müssen die Menschen gestalten können. Dazu benötigen sie Wissen und Erfahrungen. Wenn diese beiden Vorausset- zungen erfüllt sind, dann kommt der spannende Moment. Wenn jedoch die weitere Perfektionierung des Beste- henden im Fokus bleibt, dreht sich die Perfektionismusspirale weiter. Statt- dessen muss es um Vereinfachung und Reduzierung gehen. Ausgangs- punkt kann die einfache Frage sein, wie man die erforderlichen Ergeb- nisse mit nur 80 Prozent des übli- chen, gewohnten Einsatzes schaffen kann. Wenn man sich auf diese Frage konzentriert, dann ergeben sich viele Möglichkeiten, mit weniger Auf- wand zum Ziel zu kommen. Dadurch wird Stress reduziert, der Arbeits- druck für den Einzelnen sinkt, die Effektivität der Organisation steigt, es werden Potenziale für Weiterent- wicklung und Innovation freigesetzt, das Arbeitsklima bessert sich.  news Warum Perfektionismus eine Illusion ist Perfektionisten streben perfekte Lösungen „um jeden Preis“ an, auch um den ihrer eigenen Gesundheit. Von Dr. Stefan Fourier, Hannover. © S a s h k i n / S h u tt e r s t o c k . c o m © L i g h t s p r i n g / S h u t t e r s t o ck.com © p a t h d o c / S h u t t e r s t o c k .com © p athdoc/Shutterstock.com © Maridav/Shutterstock.com Dr. Stefan F o u r i e r – H u m a n a g e m e n t G m b H Kontakt Dr. Stefan Fourier Humanagement GmbH Theodor-Heuss-Platz 18 30175 Hannover Tel.: +49 511 279144-0 www.fourier.de Infos zum Autor Stefan Fourier Schlau statt perfekt Wie Sie der Perfektionismus-Falle entgehen … BusinessVillage 2015 ISBN: 978-3-869803-28-9, 19,80 Euro Tel.: +49511279144-0

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